Zeitgenössische Architektur in Bayern

Stele auf verwunschenem Land

Wer die Heßstraße auf dem Münchner Oberwiesenfeld entlang läuft, stößt etwa auf Höhe der Reithalle, bei Hausnummer 134, auf ein rotes Schild, das auf ein künstlerisches Werk verweist: SICHTUNG II, ein als Raum- und Klangskulptur betiteltes Objekt von Hildegard Rasthofer und Christian Neumaier.

Ein Richtungspfeil lenkt Besucher während der Öffnungszeiten durch ein mit Graffiti besprühtes Tor auf eine Industriebrache, die aktuell den wenigsten Münchnerinnen bekannt sein dürfte. Allenfalls Anhängern des Urban Exploring, die sich der fotografischen Dokumentation moderner Ruinen verschrieben haben, mag der lange vergessene Ort ein Begriff sein.

An einem rohen Bretterzaun vorbei wird der Besucher an der Stirnseite eines alten Gemäuers entlang geführt. In einer durch die hölzerne Einfriedung abgetrennten Senke sind zahlreiche gelagerte Baugeräte und Materialien zu erkennen. Vorboten einer Veränderung. Am Ende des Weges öffnet sich dem Betrachter plötzlich eine etwa dreißig Meter breite und gut hundert Meter lange leere Kiesfläche, die von zwei gewaltigen verlassenen Industriehallen gesäumt ist. Die eingetretene Verwilderung und der Verfall der Bauwerke ist unübersehbar. Es handelt sich um zwei Industriedenkmäler im Besitz der Stadt München, die unter den Namen Jutierhalle und Tonnenhalle in der Bayerischen Denkmalliste stehen. Die wegen ihrer Dachform so bezeichnete Tonnenhalle diente zuletzt der Münchner Stadtentwässerung als Hochregallager.

Die Jutierhalle wurde vom städtischen Baudirektor Ernst Henle im Jahr 1926 entworfen. Henle (* 1878 in München; † 1938) entstammt einer alteingesessenen jüdischen Familie in München und wurde 1938 Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. In der zeitgleich mit der benachbarten Tonnenhalle aus Eisenbeton erbauten Jutierhalle wurden von den Münchner Wasserwerken in den Anfangsjahren Leitungsrohre mit Jute umwickelt. Von 2000 bis 2003 war das Bauwerk zuletzt als Interimsspielstätte für die Münchner Kammerspiele genutzt worden. Beide Objekte wurden danach dem Verfall preisgegeben.

In Zukunft soll an dieser Stelle als Teil des Kreativquarties, wie das gesamte Areal zwischen Schwere-Reiter-Straße und Lothstraße sowie zwischen Dachauer Straße und Heßstraße genannt wird, der sogenannte Kreativpark entstehen. Die denkmalgeschützten Industriehallen werden einem Stadtratsbeschluss zufolge in den kommenden Jahren instand gesetzt und umgebaut, um darin Arbeitsräume für Kunst- und Kulturschaffende sowie für »Akteure der Kreativwirtschaft« entstehen zu lassen.

Unter letzteren verstehen Verwaltung und Politik beispielsweise Marketing-, PR- und Werbeagenturen sowie in der Software-/Games-Industrie tätige Unternehmer. Selbst Rechts- und Steuerberatung gelten per Definition der Wirtschaftsministerkonferenz der Länder aus volkswirtschaftlicher Sicht als kreativwirtschaftliche Tätigkeiten.

In direkter Nachbarschaft der alten Hallen befindet sich bereits ein »Innovations- und Gründerzentrum für Smart City Solutions« im Bau – das sogenannte Munich Urban Colab. Ab 2020 sollen hier »Start-ups, Corporate Innovators, Wissenschaftler und Kreative aus verschiedenen Branchen und Disziplinen« unter einem Dach an Technologien und Dienstleistungen in verschiedenen Themenfeldern wie Mobilität, Wohnen und Arbeiten, Handel, Energieversorgung arbeiten.

Doch heute liegt das Terrain zwischen den Industriedenkmälern noch einen letzten Sommer lang wie ein verwunschenes Land vor dem Besucher. Üppige wilde Vegetation säumt die äußeren Mauern. Schmetterlingsschwärme nähren sich am Sommerflieder. Inmitten der staubtrockenen Kiesfläche erhebt sich derweil ein riesiges Gebilde in den Himmel: die temporär dort stehende Skulptur SICHTUNG II des Künstlerduos Hildegard Rasthofer und Christian Neumaier.

Aus der Ferne wie ein Monolith wirkend, besteht die schlanke hohe Stele aus dreizehn gleichen Kuben, die, jeweils um 90° gedreht, aufeinander stehen. Eine Kube misst 2,4 x 2,4 x 2,4 Meter. Im Inneren des komplett aus Stahl bestehenden Großobjekts führt eine offene dreiläufige Podesttreppe durchgängig bis in die oberste Ebene, die als offene Plattform betreten werden kann. Groß ist die Kunst von Rasthofer und Neumaier schon im direkten Wortsinn – mehr als 32 Meter schraubt sich die rund 70 Tonnen schwere Skulptur in die Vertikale.

Zwei einander diagonal gegenüber liegende 48 Zentimeter breite Öffnungen vom Boden bis zur Decke ermöglichen in jeder Kube einen wechselnden Blick nach draußen. Das einfallende Licht reflektiert auf Wänden und Stufen – Schatten und Umrisse verändern sich im Tageslauf. In unterschiedlichen Tönen und Helligkeitsstufen changiert die metallene Oberfläche zwischen silber, blau, grün, rot, orange, braun und schwarz. Zahlreiche Versehrungen und eine charakteristische Patina überziehen die zwei Zentimeter starke Stahlhaut. Die Witterung lässt sich verändernde Schattierungen und Muster auf der Oberfläche entstehen. Das Material wirkt erstaunlich warm und organisch.

Rasthofer und Neumaier verstehen ihr modulares Werk als »orts- und situationsspezifisch«, das »bei jedem Aufbau als Objekt und Ereignis neu entsteht«. Erstmals gezeigt wurde die Arbeit als SICHTUNG I im Jahr 2018 im oberbayerischen Reithofen, dem Heimatort der Künstler. Die Auseinandersetzung mit der Situation vor Ort ist dem Duo ein Anliegen. Ihre skulpturale Installation soll einen Bezug zum Umfeld, zum Raum, zur Geschichte einer Lokation entwickeln, die Wahrnehmung für einen Ort schärfen, Räume öffnen, den Blick weiten und bei jeder Stellung eine neue Perspektive auf das Werk selbst und seinen landschaftlichen und architektonischen Kontext schaffen. In München konfrontieren Rasthofer/Neumaier ihre Skulptur als SICHTUNG II mit dem sich im Umbruch befindliche Kreativquartier.

Auf einem Teil des Geländes – nahe der Schwere-Reiter-Straße – hat sich in den ehemals militärisch genutzten Werkstätten und Verwaltungsgebäuden über mehr als ein Jahrzehnt hinweg eine kleinteilige alternative Kunst- und Kulturszene mit Ateliers, Werkstätten und kleinen Studios entwickelt. Ob das Kreativquartier auch nach seiner bevorstehenden Institutionalisierung noch ein interessanter Ort für unabhängige Münchner Kunstschaffende sein kann, oder eine völlige Verdrängung autonomen, nicht wirtschaftlich zielgerichteten Schaffens erfolgt, wird die Entwicklung der kommenden Jahre zeigen. Der politische Wille, einander formal widersprechende Interessen zu vereinen, ist zumindest konzeptionell artikuliert.

Die exponierte Kiesfläche zwischen den aufgelassenen Industriehallen bildet einen bemerkenswerten räumlichen Rahmen für die monumentale Skulptur von Rasthofer/Neumaier. Wer sie im Inneren betritt und sich auf den Weg durch die Kuben macht, erlebt neben der Wahrnehmung von Raum, Material, Farbe, Volumen und Licht auch eine klangliche Komponente des Werks. Das Künstlerduo schreibt dazu: »Die stählernen Stufen biegen sich unter Belastung minimal und federn bei Entlastung in ihren Ausgangszustand zurück. Das Besteigen der unmerklich schwingenden Treppenstufen durch die Besucher lässt Töne entstehen. Je nach Intensität der Bewegung, Vibration, Temperatur, Druck, Materialspannung und dem Standort der Besucher innerhalb der Skulptur verändert sich der Klang. Jeder Besucher hinterlässt ein spezifisches Klangmuster – eine Klangspur.«

Bereits Anfang Oktober verlässt die Skulptur von Rasthofer/Neumaier München wieder und zieht weiter nach Unterammergau in den oberbayerischen Landkreis Garmisch-Partenkirchen. Dort errichtet derzeit der Kunstsammler Christian Zott die mSE Kunsthalle. Der Unternehmer (mSE Solutions) sammelt seit vielen Jahren zeitgenössische Kunst und ist Initiator von Ausstellungen und Kunstprojekten. 2014 gründete er ZOTT Artspace by mSE als internationale Plattform für zeitgenössische Kunst in Singapur. In Sankt Kassian in den Dolomiten folgte ein zweiter Ausstellungsraum. 2017 bezog ZOTT Artspace einen großen Projektraum im Münchner Kunstareal vis-à-vis der Pinakothek der Moderne. Die Freiflächen der künftigen mSE Kunsthalle im Ammertal sind der zeitgenössischen Skulptur gewidmet. Die Raum- und Klangskulptur SICHTUNG von Hildegard Rasthofer und Christian Neumaier wird dort eine dauerhafte Heimat finden und von Unterammergau aus zeitweilig an andere Orte aufbrechen.


Die Ausstellung SICHTUNG II von Hildegard Rasthofer und Christian Neumaier ist in München noch zu sehen bis Sonntag 29. September 2019.

Wo: Kreativquartier, Dachauerstraße 110 – 114,, zwischen den Baudenkmälern Jutierhalle und Tonnenhalle

Der Zugang zum Gelände ist für Besucher der Skulptur ausschließlich während der Öffnungszeiten und nur über die Heßstraße in Höhe von Hausnummer 134 möglich.

Öffnungszeiten: Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, jeweils von 15 bis 20 Uhr

Voranmeldung erwünscht. Weitere Infos und Buchung unter: http://www.sichtung.info

Die Begehung ist ab 12 Jahren möglich. Bei Regen und Unwetter bleibt die Skulptur laut Veranstalter aus Sicherheitsgründen geschlossen.