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Münchens fehlende Resilienz

Ein Aufruf zur Suche nach urbanen Störungen

1. Der schöne Schein

Interessant am Begriff Resilienz ist, dass die damit gemeinte Widerstandskraft nicht als „Dagegen-Stemmen“ zu verstehen ist. Resilienz ist nicht: eine Mauer gegen die Flüchtlinge Zentralamerikas zu errichten. Es ist das Meistern schwieriger Situationen. Die Fähigkeit Krisen zu überstehen, ohne anhaltende Beeinträchtigungen an der bestehenden Ordnung. Die Voraussetzung für dieses Meistern aber ist die Zugänglichkeit vom bestehenden System vorgehaltener Ressourcen und Strukturen. Die Wirkung von Resilienz ist - ebenso wie die Vorbereitung hierfür - kein statisches Ereignis, sondern ein zeitbezogener, dynamischer Vorgang. Das Ziel ist die Absicherung des Status Quo.

Jede Stadt, jede urbane Agglomeration, stellt ein Ordnungssystem dar, das auf Selbsterhaltung ausgerichtet ist. Steht dieses System einem als Bedrohung empfundenen äußeren Einfluss gegenüber, zeigt sich die Kraft und Wirkung ihrer Resilienz: es zeigt sich, wie gut das System darauf vorbereitet ist.

Wenn es um die Verarbeitung von offensichtlichen Katastrophen geht, um Erdbeben und Überschwemmungen, Bürgerkriege, Epidemien und Dürren, ziehen wir die Notwendigkeit von Resilienz nicht in Zweifel. Anders sieht es bei intakten, prosperierenden Städten aus - wie München - die innerhalb einer gemäßigten Klimazone liegen und Teil eines stabilen politischen Systems und eines starken Wirtschaftsraums sind.

Hier herrscht die Meinung, der bestehende Status sei bereits ein manifestiertes Zeichen für Widerstandsfähigkeit. Aber dieser schöne Schein trügt. München 2018 liegt in herrlicher Landschaft, ist sauber, reich, gilt als die sicherste Großstadt Deutschlands, bietet kulturelle highlights, hat vorbildliche Grünzonen und einen selbstbewussten Bürgerstand mit hohem Mitspracherecht an der Entwicklung der Stadt.

Wie lässt sich der Begriff der Resilienz mit diesen Voraussetzungen in Verbindung bringen?

Dadurch, dass München all die oben genannten Qualitäten zu dem Begriff Lebensqualität vereint, aber auch durch die gloalen, nationalen und regionalen Entwicklungen erfährt die Stadt bereits seit Jahren ein hohes Bevölkerungswachstum. Dieses ungebremste Wachstum wird in den nächsten Jahren dazu führen, dass die aktuelle Einwohnerzahl von 1.550.000 (2015), nach dem neuesten Demografiebericht der Stadt, auf 1,850 Mio. Menschen im Jahr 2035 ansteigen wird. Ein Wachstum um 19,3 Prozent.

2. Der Frosch im kochenden Wasser

Kein Grund zur Panik -oder zur Resilienz- möchte man meinen. Wachstum ist schließlich ein positiv besetzter Begriff! Es spiegelt nur den Trend der letzten Jahre, die Spitzen aus den Zeiten der Flüchtlingskrise werden dabei gar nicht mehr erreicht. Und eine Stadt, die zur Zeit des Oktoberfests 2016 problemlos über 5,6 Millionen Besucher verarbeiten kann, hat offensichtlich mit einer Masse Menschen keine Sorgen.

Aber es gibt durchaus ein Problem und es verdeutlicht sich genau an dem geübten Umgang mit Millionen Besuchern des jährlichen Oktoberfests. Denn diese beanspruchen keinen dauerhaften Wohnraum, keine Schulen, Kindergärten und Arbeitsplätze und fahren aufgrund des Alkoholkonsums nicht mit dem eigenen Auto. Sie beanspruchen damit nahezu keinen Raum. Aber die neuen Bürger umso mehr. Die Stadt hat keine vorbereiteten Kapazitäten für ein derartiges Wachstum. Sie ist umringt von starken, finanziell und politisch völlig unabhängigen Gemeinden, die ihr keine Erweiterungsmöglichkeit nach außen bieten. Gleichzeitig zum Wachstum Münchens wächst auch die gesamte Metropolregion.

Bauland für die Unterbringung von einem zusätzlichen Fünftel der Bevölkerung und damit ganzer neuer Stadtteile ist in der Peripherie nicht mehr zu gewinnen.

Ein weiteres Problem stellen bekanntlich die starken Pendlerbewegungen dar. Jeden Tag fahren heute 380.000 Berufspendler in die Stadt. Abzüglich derer, die täglich die Stadt verlassen, um außerhalb zu arbeiten bleiben 200.000 Menschen übrig, die an jedem Arbeitstag auf die Stadtbevölkerung aufzurechnen sind. Auch die Anzahl dieser Menschen wird sich zwangsläufig bis 2035 um 40.000 erhöhen.

Im Vergleich zum Bahnhof Shanghai-Hongqiao mit seinen täglich 400.000 Passagieren, mag dies lächerlich wirken. Der Unterschied ist: Hongqiao ist darauf ausgelegt. Die Infrastruktur Münchens jedoch stammt zum großen Teil aus der Zeit massiver Baumaßnahmen, die für die Olympiade 1972 -vor 46 Jahren also (!)- eingeleitet wurden. Dreißig Jahre lang blieb die Münchner Bevölkerung fast konstant. Allein durch den Zuzug von mehr als 200.000 Menschen seit 2006 und der begleitenden Verdoppelung der Pendlerbewegungen ist die Infrastruktur nicht nur an der Leistungsgrenze angelangt, sie steht kurz vor dem Kollaps. Der beschlossene Neubau des Hauptbahnhofs und der Ausbau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke wird dies nicht verhindern. Der nun ständig weiter steigende Raumbedarf der Bevölkerung und des Verkehrs zusammen mit allen anderen damit verbundenen Problemen wie Verknappung bezahlbaren Wohnraums, Gentrifizierung, Konflikte durch zu schnelle Nachverdichtung, hohe Schadstoffbelastung in der Luft, dazu Lärm und Stau, stellt die größte Herausforderung für die Stadt seit dem Ende des zweiten Weltkriegs und dem sich daran anschließenden Wiederaufbau dar.

Bemerkt wurde all dies zu spät. Die eingeleiteten Steuerungsmaßnahmen wirken sich viel zu langsam aus. Die Behörden und städtischen Organe agieren ablaufbedingt schwerfällig. Aus der erforderlichen Abstimmung mit einer Vielzahl von Beteiligten, aufgrund sich in jeder kommunalen Legislaturperiode ändernder politischer Zielsetzungen und aufgrund übergeordneter Einflüsse durch Anpassung von Normen und Gesetzesänderungen entstehen sehr lange Bearbeitungszeiträume.

Konkret führt dies z.B. dazu, dass ein jahrelang bearbeiteter Masterplan zum Münchner Verkehr bereits zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung obsolet sein wird. Es werden eilig Akupunkturmaßnahmen vollzogen, die diesen Block, jenen Straßenzug, das Viertel hier und die Baustelle dort reparieren sollen. Das punktuelle Beheben von erkannten Problemen ist aber Flickwerk. In dieser Hektik fällt für München und seine gesamte Metropolregion sogar der Begriff Schwarmstadt. So werden Städte bezeichnet, in die eine junge zuwandernde Bevölkerung akut und einem Vogelschwarm gleich einfällt. Die Entwicklung erhält damit fast biblische Dimension, man denkt sofort an die Bestrafung der Ägypter durch einfallende Heuschreckenschwärme. Doch damit lenkt man nur ab, denn die Zuwanderungskurve zeigt eben seit 10 Jahren die gleiche Entwicklung.

Nichts daran ist akut.

Die ungebremste Zuwanderung wurde schlichtweg zu spät als dauerhafte Gegebenheit und nicht als nur vorübergehende Erscheinung identifiziert. Und sie lässt sich nicht aufhalten. Daraus wird deutlich: Nicht das Maß des Zuzugs ist der veränderbare Faktor, sondern die Ressource Bauland. Dies ist also die groteske Situation: hervorgerufen durch Prosperität, kulturelle Attraktivität und hohe wirtschaftliche Anziehungskraft steuert München unweigerlich auf eine Krise zu, die sich im Vergleich zu Erdbeben und Überschwemmungen nicht in den akut sichtbaren Auswirkungen zeigt, aber über kurz oder lang nachhaltig schwere Schäden am städtischen Ordnungssystem hervorrufen wird.

Konkret zeigte sich dies bereits im Sommer 2018 an einer Serie von neuartigen, massiven Demonstrationen, in denen Bürger u.a. für die Schaffung neuen Wohnraums, alternative Verkehrskonzepte, weiterer Grünflächen vor das Rathaus zogen.

Was der Stadt fehlt, ist eine vorausschauende, tragfähige und anpassungsfähige Vision für die Zukunft der Stadt. Was fehlt ist ein flexibler Masterplan für dynamisches Wachstum innerhalb der Grenzen.

3. München 2050

Unser Büro, unterstützt von einigen Förderern, stellt sich dieser Aufgabe und bereitet für das Jahr 2020 eine visionäre Ausstellung vor. Ziel von „München 2050“ ist eine Agenda für diese Stadt, die so weit nach vorne greift, dass aus hektischer Problemlösung ein struktureller Umgang mit der Herausforderung des Wachstums wird. „München 2050“ bedeutet: mit Mitteln der Architektur und Stadtplanung die wichtigsten Elemente städtischer Infrastruktur laufend zu scannen und zu hinterfragen.

Infrastruktur besteht dabei nicht nur aus Straßen, Brücken, Verkehr, unter- oder überirdischen Versorgungseinrichtungen sondern schließt Einrichtungen der Kultur, der Naherholung, des Sports mit ein. Alle diese Bereiche müssen ab sofort durch eine unabhängige, aus gewählten und temporär bestellten Experten gebildete Kommission regelmäßig auf ihre Funktion hin geprüft werden.

Dabei soll bei jeder untersuchten Struktur das Augenmerk gelegt werden auf folgende Fragen:

  • Braucht man sie überhaupt noch?
  • Braucht man sie in dieser Dimension?
  • Mit welchen Auswirkungen kann die Monofunktion multifunktional werden?

Es geht um die Erforschung von Potential. Da ein städtisches System, geregelt oder ungeregelt, immer äußerst dynamisch und veränderlich ist, muss dieses Monitoring, dieser Potentialscan zuverlässig durchgeführt und die Agenda laufend überprüft werden. Es erfordert Mut, 30 Jahre in die Zukunft zu planen. Aber nur so erhalten die Bewohner der Stadt eine Vision, an die sie sich gewöhnen können. Und nur so ist Bürgerbeteiligung und Diskussion sinnvoll.

Auslöser für unsere Beschäftigung mit diesem Thema war ein konkretes Projekt: Die mehrjährige Revitalisierung eines obsolet gewordenen ehemaligen Heizkraftwerks in München. Man forderte bereits den Abriss, aber es gelang allen Beteiligten, ein neues Wertgerüst für das Haus zu etablieren. Heute stellt das multifunktional genutzte Gebäude eine neue Mitte für diesen Stadtteil dar. Wir erkannten, wieviel Potential in der Umwandlung bisher unbemerkter städtischer Infrastruktur steckt. Und wir begannen aktiv nach diesem Potential zu suchen. Nach dem erfolgreichen Abschluss dieses Projekts wurde uns ein weiteres, leerstehendes Stück Infrastruktur, ein seit 40 Jahren ungenutztes großes ehemaliges Heizwerk der Deutschen Bahn zur Revitalisierung anvertraut. In den nächsten Jahren wird dort ein Gastronomie- und Kulturzentrum an der Grenze zweier Stadtteile entstehen.

Derartige Leuchtturm-Projekte eignen sich nicht für großflächigen Wohnbau, sie lösen keine Flächenprobleme. Aber sie sitzen an wichtigen Nahtstellen der Stadt und bieten das Potential wichtige funktionale Ergänzungen im Stadtraum vorzunehmen. Beispiele derartiger Umwandlungen alter Versorgungseinrichtungen und Kraftwerke gibt es weltweit genug. Sie zeugen von der Erneuerungsfähigkeit obsolet gewordener infrastruktureller Maschinenhüllen.

Um großflächigen Wohnraum umzusetzen muss man andere Bereiche der Infrastruktur anfassen: Flächenbauwerke für fließenden und ruhenden Verkehr. Bereits heute wird in München an der Über- und Unterbauung von Parkplätzen und Verkehrsbrücken gearbeitet. Einzelhandelsketten haben sich zu Gesprächen bereit erklärt, ihre monofunktionalen Parkflächen zu überbauen, vielleicht sogar als Bauträger selbst aufzutreten und neuen Wohnraum in ihr Sortiment aufzunehmen.

Die dauerhafte oder temporäre Aneignung von städtischer Infrastruktur wird heute bereits als pop-up-architecture umgesetzt, eine für München völlig neue Entwicklung. Versetzbare Container, ein altes Ausflugsschiff auf einer Gleisbrücke, ein Dachgarten mit Bar auf dem ungenutzten Dach eines Parkhauses mitten in der Stadt. Aber diese Impulse bleiben punktuell. Pittoresk, äußerst beliebt und belebt, aber am Ende wirkungsschwach gegenüber der Mammutaufgabe, von nun an jedes Jahr 15.000 neuen Bürgern Wohnungen und Arbeitsplätze zu gewährleisten.

Die Agenda „München 2050“ muss und wird daher eine Vielzahl von flächendeckenden Maßnahmen in der Stadt aufzeigen, die auf Wandel reagieren können. Jeder einzelne Bürger wird von diesen Maßnahmen unterschiedlich stark betroffen sein. Zu Gunsten einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Entwicklung der Stadt. Der größte Fehler im weltweiten Städtebau des letzten Jahrhunderts muss dabei jedoch vehement vermieden werden: Der Irrglaube, dass es außerhalb der konkret betrachteten Stadt identisch gemacht werden muss. Barcelona hat andere Probleme. Rom, London, Paris und Zürich wieder andere.

Aber jede Stadt kann beispielsweise von der Einrichtung einer stiftungsfinanzierten, unabhängigen task-force, die multifunktional und multidisziplinar besetzt ist, profitieren. Einer Kommission, mit dem Mut zur Vision, und der Arbeit an der räumlichen Manifestation von Resilienz. Auch und gerade in Städten, die auf den ersten Blick intakt scheinen.

Denn die Wirksamkeit von Resilienz zeigt sich eben leider erst dann, wenn sie notwendig wird.

Es sind wir Architekten und Stadtplaner, die die Ausbildung dafür haben, Potentialforschung hierfür zu betreiben. Das wäre doch eine mögliche, wunderbare Zukunft für unser Berufsfeld!