Zwischen Programm und Offenheit

Städtebau ist eine Disziplin, die ein knappes Jahrhundert lang geschunden wurde. Jetzt harrt sie der Neuentdeckung, Neubewertung und Neuerfindung. Dafür braucht es ein kluges Programm, ohne das qualitätvoller Städtebau unmöglich ist.

Vittorio Magnago Lampugnani
Drucken
Auf dem Reissbrett geplante Wohnsiedlungen wie Sarcelles bei Paris verwandelten sich schnell in triste Schlafstädte. (Bild: Roger-Viollet/Keystone)

Auf dem Reissbrett geplante Wohnsiedlungen wie Sarcelles bei Paris verwandelten sich schnell in triste Schlafstädte. (Bild: Roger-Viollet/Keystone)

Keine Stadt wird gut, wenn die Aufgabe, die sie zu erfüllen hat, nicht klar und klug formuliert ist, mit anderen Worten: wenn ihr Programm nicht stimmt. Ein Programm, das nur oder überwiegend Wohnungen vorsieht, erzeugt Schlafghettos, die tagsüber fast immer trostlos daliegen. Ein Programm, das nur oder überwiegend Büros vorschreibt, erzeugt Arbeitsstädte, die nach Feierabend aussterben. Emblematisch für die erste Gattung ist Sarcelles, das grösste der insgesamt 200 Grands Ensembles, die zwischen den 1950er und den 1960er Jahren in Frankreich entstanden, das der Sarcellite ihren Namen gab, einer sozialen Krankheit, die sich als Mischung aus Entfremdung, Depression und Verwahrlosung beschreiben lässt. Für die zweite Gattung, die reine Arbeitsstadt, steht in Paris La Défense mit ihrer unterkühlten urbanen Umwelt aus gläsernen Bürobauten.

Ein System schöner Stadträume

Im Programm müssen die Aufgaben der Stadt formuliert und quantifiziert werden: Wohnen und Arbeiten in einem ausgewogenen Verhältnis, in sich unterteilt nach Ansprüchen, Lebensweisen, Produktionsorten. Dazu Bildungs- und Versorgungsfunktionen, Erholung, Mobilität. Anders ausgedrückt: Eine Stadt muss aus Wohnungen für unterschiedliche Einkommens- und Gesellschaftsschichten bestehen, aus in sich differenzierten Arbeitsplätzen, aus Kindertagesstätten, Kindergärten, Schulen, Universitäten, Spitälern, Bibliotheken, Museen, Kinos, Theatern, Oper. Aus Turnhallen, Sportstadien, Gärten und Parkanlagen. Aus Bahnhöfen, Häfen und Flughäfen.

Das Programm wird dem Stadtbauer vom Bauherrn, sei dieser öffentlich oder privat, vorgegeben. Aber der Stadtbauer muss das Programm prüfen, hinterfragen, gegebenenfalls ergänzen und korrigieren. Und er muss die Funktionen, die die Stadt zu erfüllen hat, so verteilen, dass sie nicht vereinzelt und nebeneinander, sondern als in sich stimmige Mischung auftreten. Wohnen und Arbeiten mögen getrennt gehören, aber nicht weit voneinander entfernt. Die Wohnfolgeeinrichtungen können und müssen mit dem Wohnen und Arbeiten vermischt werden. Nur so ergeben sich kurze Wege, Synergien und überhaupt das, was wir als Urbanität bezeichnen.

Bevor ein Stück Stadt erfunden wird, muss deren Programm erfunden werden. Dieser Prozess erfordert genauso viel Kreativität wie der Stadtentwurf und letztlich genauso viel Poesie. Natürlich besteht ein Programm aus Zahlen und Flächen, aus Analysen und Bedarfsermittlungen; aber bereits diese Analysen, diese Ermittlungen, diese Flächen und Zahlen müssen schöpferisch interpretiert, zusammengestellt, durcheinandergewürfelt und neu miteinander kombiniert werden.

Das Programm muss, bevor es Stadt wird, in einen Plan umgesetzt werden. Dieser muss zuerst die öffentlichen Räume bestimmen. In der Stadtplanung der letzten Jahrzehnte sind sie zunehmend in den Hintergrund getreten, waren das, was übrig blieb nach der Bestimmung der Erschliessungsflächen und der privaten Parzellen, gerieten in Quartieren, die von einzelstehenden Bauten geprägt waren, zu Resträumen, die es nachträglich zu verhübschen galt. Genau das Gegenteil muss geschehen, und das Gegenteil war in jedem historischen Stadtprojekt, das diesen Namen verdient, der Fall. In der antiken Stadt wurden zunächst die Freiräume angelegt – Plateiai, Stenopoi und Agora in der griechischen Stadt, Viae, Ambiti und Forum in der römischen. Sie wurden mit öffentlichen Bauten und Tempeln ausgestattet, mit Kunstwerken geschmückt. Die privaten Parzellen waren das, was übrig blieb, und ihr Zuschnitt hatte sich ebenso der übergreifenden Stadtzeichnung zu unterwerfen wie der einzelne Mensch der Gemeinschaft.

Ort der «res publica»

In der Tat ist der öffentliche Raum mehr als das, was erforderlich ist, um die Erschliessungs- und Mobilitätsfunktionen der Stadt unterzubringen, mehr als eine hübsche Zutat für schöngeistige Faulenzer. Auch mehr als ein schlauer Anreiz zum heftigeren Konsumieren, besseren Arbeiten und einfallsreicheren Produzieren. Bevor er technokratisch besetzt und kommerziell umgewidmet wurde, war der Stadtraum der Ort der «res publica» schlechthin: in dem sie geboren, erfunden, gepflegt und verwaltet wurde. Denn der Geburtsort der modernen Demokratie ist nicht ein Wald oder ein Park, auch nicht eine Patriziervilla oder eine Anwaltskanzlei, sondern ein urbaner Raum: die Agora von Athen. Die politische Geschichte unserer Zivilisation wurde auf den Plätzen unserer Städte gemacht.

Heute sind die Mechanismen der Politik, der Religion, der Ökonomie und der Kultur subtiler und diffuser, aber auf die urbanen Räume können und wollen sie nicht verzichten. Nach wie vor finden grosse politische Veranstaltungen nicht nur im Fernsehen, sondern auch und in erster Linie im urbanen Raum statt. Nach wie vor verleiht der Papst seinen Ostersegen auf jenem Petersplatz in Rom, den Gian Lorenzo Bernini für Alexander VII. gestaltet hat. Nach wie vor drängen die multinationalen Grossbanken an die noblen städtischen Strassen und Alleen. Nach wie vor finden Feste und Konzerte auf den Domplätzen, den Marktplätzen, den Hauptplätzen der europäischen (und nicht nur der europäischen) Metropolen statt.

Denn wir wollen in der Stadt nicht nur wohnen, einkaufen, lernen, arbeiten, uns amüsieren. Wir wollen mehr. Dieses Mehr hat David Hume 1752 im Essay «Von der Verfeinerung in den Künsten» beschrieben: «Je mehr sich diese verfeinerten Künste fortbilden, um so geselliger werden die Menschen. Sie ziehen gruppenweise in die Stadt, lieben es, Wissen aufzusaugen und auszuteilen, ihren Geist und ihre guten Manieren vorzuführen, ihren Geschmack in Konversation und Lebensführung, in Kleidung und Einrichtung. Beide Geschlechter begegnen sich in einer leichten und geselligen Art und Weise, und die Charaktere wie auch das Benehmen der Menschen verfeinern sich entsprechend.» Ganz im Sinn der europäischen Aufklärung beschwört Hume die Stadt als Dispositiv zur Verbesserung des Menschen; und den Antrieb dieses Dispositivs entdeckt er in der Neigung, ja der Leidenschaft, «Wissen aufzusaugen und auszuteilen». Um diesen Anspruch einzulösen, müssen die öffentlichen Räume nicht nur ausgespart, sondern auch gestaltet werden.

Für diese Gestaltung gibt es keine Rezepte, wohl aber Beispiele. Sie sind in der Geschichte der Stadt zu finden. Die grossartigen Strassen, Plätze und Parkanlagen, die in der Vergangenheit geschaffen wurden und deren wir uns heute immer noch erfreuen, sind Lehrstücke für die erfolgreiche Beziehung zwischen gebauten Räumen und sozialen Prozessen, die sich in der Zeit erhalten und bewährt haben. Wir können sie nicht nachahmen, wohl aber daraus lernen. Die Geschichte der Stadtarchitektur ist ein Gedächtnis von Strategien, das auf gegenwartsbezogene Ansprüche hin befragt werden muss.

Zusammenspiel urbaner Architekturen

Zu den verheerendsten Missverständnissen, die den zeitgenössischen Städtebau plagen, gehört jenes der Erfindung um jeden Preis. Jeder Architekt, der sich anschickt, ein Stück Stadt zu planen, meint, sich auf ein verbrieftes Recht auf Neuschöpfung berufen und von allem verabschieden zu dürfen, was vor ihm war, sowie sich von allem abzusetzen, was um ihn ist. Ja noch mehr: Er meint, unbedingt anders und neu sein zu müssen, weil er sonst Gefahr läuft, nicht beachtet oder gar als rückwärtsgewandter Langweiler verspottet zu werden.

Das war nicht immer so; das war sogar jahrtausendelang anders. Sosehr die öffentlichen Räume und die öffentlichen Gebäude, die sakralen wie die weltlichen, ein besonderes Gesicht erhalten sollten, so wenig sollten sich die Wohnbauten der Stadt, also ihre architektonische Hauptsubstanz, hervortun. Sie wurden optimiert und standardisiert und hatten von der Norm, die aufgestellt wurde oder sich aus den Entstehungs- und Lebensbedingungen ergab, möglichst wenig abzuweichen. Noch Mitte des 18. Jahrhunderts riet Pierre Le Muet, ein französischer Architekt, der mit seinem Handbuch «La manière de bien bastir» (1764) ein bedeutendes Stadtbaumanual schuf, jedes neue Haus in einer Strasse möglichst dem anzupassen, was bereits dort stand; und empfahl treuherzig denjenigen, die keine wirklich gute Architekturidee hatten, einfach ein schönes städtisches Gebäude auszuwählen und es zu kopieren. Das wurde auch vielerorts getan, mehr oder minder wörtlich, und so stellen sich die meisten Städte, die wir bewundernd lieben, als harmonische Abfolgen des immer Gleichen oder zumindest Ähnlichen dar, das lediglich behutsam und zuweilen virtuos variiert wird.

Eine neue Stadt, ein neues Stadtquartier muss bei aller Unaufgeregtheit von mehreren unterschiedlichen Gestaltern entworfen werden, sonst bleibt es dünn wie ein hoch vergrössertes Modell. Aber einer von diesen Gestaltern muss den Gesamtplan erfinden, zeichnen und verantworten: Eine Stadt braucht einen Autor. Es ist unstrittig, dass das Programm für ein urbanes Projekt nur politisch formuliert werden kann, und dazu braucht es der Debatte. Aber etwas Schönes entsteht nur dann, wenn man jemanden, dem man die Kompetenz zutraut und dem man vertraut, machen lässt. Zugegeben: Jede grössere Stadt ist eine Überlagerung verschiedener Planungen und eine Addition, zuweilen sogar eine Collage unterschiedlicher Stadtviertel.

Aber jede Planung, jedes Stadtviertel ist nur dann der Rede wert, wenn es von einem Stadtbauer gezeichnet wurde – allein gezeichnet, und mit grosser Freiheit. Das gilt für Priene wie für Milet, für Bern wie für Sabbioneta, für das Rom von Sixtus V. und Domenico Fontana wie für das Paris von Napoléon III und Georges-Eugène Haussmann. Das gilt für das Barcelona von Ildefonso Cerdà ebenso wie für Hendrik Petrus Berlages Amsterdam Süd. Freilich sind diese Beispiele aus der Vergangenheit, und vieles ist heute anders. In der Stadtplanung gibt es kein omnipotentes Subjekt, die Mittel sind unzureichend, die Akteure zerstritten, weil sie gegensätzliche Interessen vertreten und sich nur auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen vermögen, das Bewusstsein des unzulänglichen Wissens über die Stadt und ihre Entwicklungsgesetze wirkt paralysierend, der stetige Wandel, in dem sie begriffen ist, lässt sie unfassbar erscheinen. Aber gerade deswegen ist es erforderlich, dass jemand mit Mut, vielleicht auch mit Übermut und einer Dosis Leichtfertigkeit all das betrachtet, reflektiert und sich daraufhin über manches hinwegsetzt, um der Stadt eine Form zu verleihen. Das ist weniger gewagt, als es zunächst scheinen könnte. Städte und Stadtteile leisten, wenn sie robust entworfen sind, viel mehr als das, wofür sie ursprünglich vorgesehen waren. Deswegen wohnen und arbeiten wir nach wie vor gerne in den Stadtstrukturen der Vergangenheit. Sie sind alle für Menschen gebaut worden, die ganz anders lebten als wir, lassen aber jeden Spielraum für andere, moderne Lebensformen. Mehr noch: Ihre klaren Strukturen, ihre eindeutigen Formen bieten einen Halt für unser Leben, das sich an diesen Formen und Strukturen reiben kann, um in ihnen wirklich heimisch zu werden.

Planung für das Unplanbare

Am 16. März 1972 wurde die Siedlung Pruitt-Igoe in St. Louis, Missouri, keine 20 Jahre alt, gesprengt. Die ehemaligen Bewohner jubilierten. Der englische Architekturkritiker Charles Jencks nahm das aufsehenerregende Ereignis zum Vorwand, das Ende der Moderne und den Beginn der Postmoderne zu verkünden. Die Sprengung leitete eine Reihe von Abrissen in den Städten der Vereinigten Staaten und von Europa ein, die hauptsächlich Grosssiedlungen der sechziger und siebziger Jahre betrafen; darunter grössere Teile von Sarcelles.

Als untauglich hatten sich die grossen Wohnstrukturen weniger aufgrund ihrer tristen Architektur denn wegen ihrer Eindimensionalität und Unflexibilität erwiesen. Es waren reine Wohnsiedlungen, was sie in Schlafstädte verwandelte, und sie enthielten Wohnungen für sozial Schwache, was zu sozialen Ausgrenzungen und Problemen führte. Die Mietskasernen des 19. Jahrhunderts mit ihren schlechten, aber konventionellen Konstruktionen und ihren einförmigen, aber neutralen Grundrissen konnten ohne grossen Aufwand umgewidmet und umgebaut werden, um anderen Zwecken zu dienen als jenem, dem sie ursprünglich zugesprochen waren. Die Nachkriegssiedlungen mit ihren vorgefertigten Betonkonstruktionen und ihren hochspezialisierten Grundrissen konnten es nicht.

Geben wir es zu: Die Stadt, jede Stadt ist so komplex, dass sie sich nicht wirklich planen lässt. Jedes Programm, das wir einer Stadt zugrunde legen, wird früher oder später obsolet und weicht anderen Bedürfnissen. Damit nicht auch die Stadt weichen muss, muss sie kräftig und flexibel genug sein, auch Lebensformen aufzunehmen, die wir nicht vorhergesehen haben und vielleicht auch gar nicht vorhersehen konnten. Sie muss genügend Offenheit besitzen, das Ungedachte und Unplanbare aufzunehmen.

Noch die schönsten Städte sind anders erdacht worden, als sie sich uns gegenwärtig darstellen. Barcelona ist heute eine Stadt mit hoher Dichte und überwiegend vollständig überbauten Blöcken. Cerdà hatte sie als urbane Gartenstadt erdacht, mit nur zweiseitiger Bebauung und grünen Innenhöfen, die mindestens die Hälfte der Blockfläche einnehmen sollten. Es kam also ganz anders, als er dachte und wünschte, aber sein Plan ist gleichzeitig stark und offen genug, dass er die Spekulation, die über ihn hinwegrollte, einigermassen gelassen hinzunehmen vermochte.

Ganz zum Schluss: Stadt entsteht dort und nur dort, wo das öffentliche Interesse über das private gestellt wird; Stadt ist gebaute Gemeinschaft. Das muss die Politik sicherstellen, mit vielleicht unbequemen und unpopulären Vorgaben, aber auch der Architekt, mit innovativen, zu sämtlichen obskuren Trends quer liegenden Lösungen. Was heute unzeitgemäss und eigenwillig erscheinen mag, wird möglicherweise morgen als richtig und tragfähig erkannt. Die Gretchenfrage, die sich jeder Stadtbauer stellen muss, lautet: «Was werden unsere Kinder und Enkel zu dem sagen, was wir hier bauen?» Wir sollten sie mit der Zuversicht beantworten können, dass unsere Kinder und unsere Enkel gern, gesellig, produktiv und vergnügt in unseren neuen Städten leben werden.

Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani lehrt Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, ist Architekt in Mailand, Autor zahlreicher Publikationen und Herausgeber des im GTA-Verlag, Zürich, erschienenen Buches «Stadt-Bau als Handwerk. Elf Gespräche und sieben Projekte 1999–2011».