Marienplatz:Zwischen Bordell und Hölle

Modernisiertes Sperrengeschoß unter dem Marienplatz in München, 2015

Für 30 Millionen Euro wurde das Zwischengeschoß am Marienplatz saniert - in rot.

(Foto: Robert Haas)

München hat wieder eine Architektur-Debatte: das Marienplatz-Sperrengeschoss. Farbe im öffentlichen Raum ist selten. Der rotlichtige Bahnhof könnte ein Versprechen sein.

Von Gerhard Matzig

Sogined" klagt über das "puffige Ambiente". Ein anderer User namens "Totalverspult" findet die Farbe "aggressiv". Und "Naservus" kommentiert den neu mit einer intensiv rot-orange-farbigen Decke ausgestatteten Bahnhof so: "als würde man in der Hölle spazieren gehen". Fast muss man sich fragen, ob Schwangeren, Kindern und Menschen, die entweder an zu hohem Blutdruck oder zu niedriger Aggressions-Toleranz leiden, der Zutritt zum Bahnhof am Münchner Marienplatz verwehrt werden sollte. Ein Warnhinweis ("Vorsicht! Eingang zur Hölle!") wäre auf jeden Fall angebracht.

Zwischen Himmel und Hölle

Herrlich, München hat mal wieder etwas zu debattieren - und die Zeitungen haben was zu titeln: zum Beispiel "München sieht rot" (AZ). Andere halten dagegen und finden das für insgesamt 30 Millionen Euro in dreieinhalb Jahren modernisierte Untergeschoss von Münchens wichtigstem Platz "himmlisch". Zwischen Himmel und Hölle hat die bayerische Landeshauptstadt offenbar einen geradezu unterirdischen Ästhetik-Streit. Wobei wir hier schon aus Jugendschutzgründen nicht wiedergeben, was die 1860er-Fans (traditionell blau) zu der roten FC-Bayern-München-Farbe sagen. Die Hölle ist dagegen ein Ort himmlischer Sanftmut.

Übrigens ist nicht bekannt, dass die Architektur-Büros (Allmann Sattler Wappner sowie Palais Mai) oder der Lichtdesigner Ingo Maurer zu jenen Ultras gehören, die sich unter dem Marienplatz naturgemäß nur eine FCB-Hommage vorstellen können. Eher dürfte es so sein, dass die Gestalter umsichtig die Baugeschichte des mehr als 40 Jahre alten Bauwerks zitieren.

Die übliche München-Lösung? Grau, grau, grau

Die rot-orange gehaltenen, hochglänzenden Aluminium-Paneele an der Decke verweisen auf die aus den Siebzigerjahren stammende Farbfindung, nämlich auf die blauen Kacheln, die (zum Trost auch der Löwen-Fans) immer noch blau sind, sowie auf die bestimmenden Stilelemente in Orange. Der Bahnhof hat also seine typische Anmutung, seine Corporate Identity und seine Baugeschichte bewahrt. Und das ist auch gut so.

Wer den rotlichtigen Bahnhof besucht und sich die glänzend polierte, fast wie ein Spiegel wirkende und so den Raum nach oben weitende Decke, deren LED-Lichttechnik für zauberhafte Effekte sorgt, betrachtet, kann eigentlich nur staunen: München traut sich was.

Schon eine S-Bahn-Station weiter, am Isartor, ist ja die übliche München-Lösung zu besichtigen. Hier ist der Boden grau, die Decke ist grau und die Wände sind überraschenderweise grau. Ein paar Betonsäulen, minzgrün angehaucht, stemmen diese Tristesse, die erstens an den Münchner Novembernieselnebel erinnert - und zweitens daran, dass farbige Architektur in München meist behandelt wird, als sei sie eine fremde Kultur. Nicht integrationsfähig.

Ein Bahnhof als Versprechen

Die öffentlichen Gebäude changieren meist in einem Ton, der sich nicht entscheiden kann, ob er Schiefergrau, Steingrau, Granitgrau oder Graugansgrau sein will; und die zaghaft bunten Doppelhaushälften in den breiig zerfließenden Vororten sind entweder bonbonpastellrosa, bonbonpastellgelb oder bonbonpastellgrün angestrichen. Farben mit Selbstbewusstsein und Charakter, Bauwerke mit Haltung und Orte mit Energie sind selten.

Deshalb ist ein unterirdischer Bahnhof, der außer ein Bahnhof auch ein Bordell oder die Hölle sein könnte, zumindest ein Versprechen. Etwa darauf, dass München solchen Mut nicht nur in den Bahnhöfen, zeigt - sondern irgendwann auch einmal oben. Mehr Mut! Das Leben ist kein Schwarzweiß-Film. Moskau hat einen Roten Platz, Berlin ein Rotes Rathaus, die Welt hat ein Rotes Meer - und München hat jetzt eben eine rote Bahnhof-Decke.

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