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„Wir sind an einem ‚Täter-Ort‘ Das ist wichtig.“

NS-Dokumentationszentrum Muenchen NS-Dokumentationszentrum Muenchen
„Das Gebäude duckt sich nicht weg. Es stört“: Gründungsdirektor Winfried Nerdinger vor dem NS-Dokumentationszentrum in München, das am 30. April 2015 eröffnet wird
Quelle: Hans-Rudolf Schulz
Am 30. April wird in München das NS-Dokumentationszentrum eröffnet. Chef Winfried Nerdinger über Architektur als Statement, die Konzeption des Hauses und das Täter-Problem der Deutschen.

Nein, die Geschichte des NS-Dokumentationszentrums ist kein Ruhmesblatt für München. Nicht nur, dass Städte wie Nürnberg oder Berlin seit Jahren solche Lernorte haben: Die Eröffnung wurde viermal verschoben. Und bevor der erste Besucher einen Fuß in das Haus setzen konnte, hatte es schon seinen zweiten Chef. Für Direktor Winfried Nerdinger läuft jetzt der Countdown. Die Einladungen für den Festakt am 30. April sind raus. Ab 1. Mai steht das Haus dann jedermann offen.

Welt am Sonntag: Den 30. April haben Sie bewusst ausgesucht?

Winfried Nerdinger: Ja, sicher. Am 30. April 1945, vor 70 Jahren, haben die Amerikaner das Münchner Rathaus besetzt, einen Tag vorher hatten sie das Konzentrationslager Dachau befreit. Es war eine Besetzung und eine Befreiung vom Nationalsozialismus. In München begann damit die Entnazifizierung und Re-Education. Die Rückführung zur Demokratie.

Welt am Sonntag: Am 30. April jährt sich auch der Todestag Hitlers zum 70. Mal. Der eine oder andere findet den Termin deswegen nicht so toll.

Nerdinger: Also, man kann sicher zu jedem Kalendertag einen unpassenden Todestag konstruieren. Aber ich fände es schon ziemlich abstrus, wenn wir nicht mehr an etwas erinnern dürften – nur weil jemand meint, eine Brücke zu Hitler schlagen zu müssen.

Welt am Sonntag: Die Empfindlichkeiten sind groß. So wurde heftig um den Namen des NS-Dokumentationszentrums gestritten, weil das Kürzel „NS“ der „Tätersprache“ entstammt.

Nerdinger: Auch das fand ich ziemlich konstruiert. Zum einen gibt es in Deutschland schon etliche NS-Dokumentationszentren. Zum anderen sprechen wir ja auch von NS-Schriften, NS-Verbrechen, vom NS-Regime. Es ist ein Standardbegriff. Auch in der Forschung.

Welt am Sonntag: Der Bund wollte sich nicht an der Finanzierung des Dokumentationszentrums beteiligen, weil man, so wörtlich, lieber „Opfer-Orte“ als „Täter-Orte“ fördert.

Nerdinger: Das war ein vorübergehender Trend in der Politik. Die Drittel-Förderung, wonach Bund, Land und Stadt sich die Kosten von 30 Millionen Euro teilen, ist längst staatsvertraglich geregelt. Aber richtig ist: Wir sind hier an einem „Täter-Ort“. Und das ist auch wichtig.

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Welt am Sonntag: Wie meinen Sie das?

Nerdinger: Man hat sich in der deutschen Erinnerungskultur lange nur auf die Opfer konzentriert und die Täter damit ausgeklammert. Der Blick auf die Opfer erklärt aber nicht, warum sie Opfer wurden, warum Menschen umgebracht oder gequält wurden. Um das zu begreifen, muss man sich mit den Tätern auseinandersetzen: Woher sie kamen, aus welchem Umfeld, ihre Biografien, die sozialen und gesellschaftliche Zusammenhänge, die ihnen ihre verbrecherischen Karrieren ermöglicht haben. Letztlich muss man die ganze sogenannte Volksgemeinschaft, die das nationalsozialistische Regime getragen und mit ihrem Rassismus dafür gesorgt hat, dass es funktionieren konnte, in den Blick nehmen. Dies ist erst in den 1990er-Jahren geschehen.

Welt am Sonntag: Wir stehen hier am historischen Ort?

Nerdinger: Auf historischem Boden, ja. Wo jetzt das NS-Dokumentationszentrum steht, stand damals das „Braune Haus“: die erste repräsentative Parteizentrale der Nationalsozialisten, ein nobles, klassizistisches Palais aus der Klenzezeit. Die Nazis haben es mitten in der Weltwirtschaftskrise gekauft, nachdem sie die ersten großen Wahlerfolge errungen hatten. Sie haben es pompös umbauen lassen und mit der Parteizentrale in der vornehmen Maxvorstadt natürlich auch ein Zeichen gesetzt: Nämlich dass die Partei, die nicht nur, aber doch sehr stark auch aus dem Dunst der Bierkeller hervorgegangen ist, im gehobenen Bürgertum angekommen war.

Welt am Sonntag: Das NS-Dokumentationszentrum anstelle des ausgebombten Braunen Hauses soll nun ebenfalls ein Zeichen setzen. Was ist das Dokumentationszentrum und was ist es nicht?

Nerdinger: Es ist kein Museum in dem Sinn, dass man hier Originalobjekte aus der Zeit des Nationalsozialismus zu sehen bekommt. Es ist ein Lern- und Erinnerungsort, das heißt: Sie finden hier alle Fakten zur Münchner NS-Geschichte. Und: Die Dauerausstellung ist didaktisch, nach Lernzielen strukturiert. Es gibt ein Auditorium, vier Seminarräume, wir haben vier fest angestellte Pädagogen und ein großes Programm für schulische Weiterbildung, für Seminare, für Jugendgruppen aller Altersstufen. Mitnehmen sollte man, dass es sich um ein virulentes Thema handelt. Das Thema geht uns auch heute noch etwas an.

Welt am Sonntag: Ein ganzes Geschoss im Haus behandelt die Zeit von 1945 bis heute.

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Nerdinger: Das war anfangs umstritten. Es gibt auch Dokumentationszentren, die sich nur mit der Zeit bis 1945 befassen. Zu unserem Konzept gehört, dass wir zum Beispiel auch auf personelle Kontinuitäten schauen, also auf die Nachkriegskarrieren von Nazis in der Verwaltung, in der Justiz und im öffentlichen Leben. Oder auf das Fortleben von NS-Gedankengut, von Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Am Ende der Ausstellung kommt man in der Gegenwart an. Zum Beispiel beim NSU-Prozess.

Welt am Sonntag: Erinnerungsorte haben immer auch eine ästhetische Dimension. Dabei kommt das Münchner NS-Dokumentationszentrum bei der Kritik nicht gut weg. Vermisst wird eine „sprechende Haltung der Architektur“.

Nerdinger: Man kann immer über Architektur streiten, beispielsweise auch, ob Weiß, die Farbe der Unschuld, die richtige Farbe für ein NS-Dokumentationszentrum ist. Aber das Gebäude duckt sich nicht weg. Im Gegenteil: Es stört. Es ist eindeutig ein Zeichen der Moderne, das hier selbstbewusst in der (neo-)klassizistischen Umgebung am Königsplatz situiert wurde: Beton gegen Naturstein, Asymmetrie gegen Symmetrie. Man sieht, dass sich München seiner Vergangenheit stellt. Darauf kommt es an.

Winfried Nerdinger, 70, gilt als unbequem. Zwei Jahrzehnte lang ging der TU-Professor und Sohn eines Widerständlers dem offiziellen München mit seiner Forderung nach einem NS-Dokumentationszentrum auf die Nerven. Die „Hauptstadt der Bewegung“ nannte er auch „Hauptstadt der Verdrängung“. Dass er ein guter Ausstellungsmacher ist, weiß man seit seiner Zeit als Leiter des Architekturmuseums der TU. Als die Stadt 2011 den Vertag mit der designierten Gründungsdirektorin einvernehmlich löste, sprang Nerdinger ein – das erste Konzept fürs Haus war ohnehin von ihm.

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