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Optische Täuschung

„SZENEN DREIER HÄUSER [von Gunnar Asplund]“ – hinter diesem nüchternen Titel verstecken sich eine Reihe extrem lesenswerter Fantasien.

Zunächst denkt man, ein Reclam-Heftchen in den Händen zu halten: schwarzes, reduziertes Coverbild auf gelbem Umschlag, und dann auch noch diese winzige Schrift, die man beim ersten Durchblättern des 87 Seiten umfassenden Büchleins verwundert registriert. Davon ist man gezwungenermaßen erst einmal irritiert und es kostet ein wenig Überwindung, sich auf diese Zeilen einzulassen. Doch der Text fließt wunderbar, man liest „über das Layout hinweg" und taucht plötzlich ein in eine spannende, poetische Architekturbeschreibung, die in dieser Form sehr selten geworden ist und mit der Entstehungszeit der vorgestellten Gebäude korrespondiert: Der erste (grün gefärbte) Abschnitt des Büchleins leitet in drei Hauptwerke des schwedischen Architekten Gunnar Asplund ein. Vorgestellt werden die Stadtbibliothek in Stockholm (1918-1927), das Gerichtsgebäude in Sölvesborg (1919-1927) und das Kaufhaus Brendenberg in Stockholm (1933-1935). Die Gebäudeschnitte und alte schwarzweiß Fotos unterlegen den Text.

Bis dahin also alles klar – doch dann folgt eine Aufgabe: „Die Handlungsanweisung an unsere Studenten lautete also: Nimm einen von drei vorgegebenen Schnitten und reichere ihn ausschließlich in einer Schnittperspektive mit Räumen an, die wiederum als 'Handlungsräume' einer selbst zu erfindenden Geschichte verstanden werden sollen. Die Bearbeitungszeit: Ein Tag und eine Nacht...“

Der Bruch könnte dann nicht größer sein: Das Papier wechselt wieder auf weiß und es folgen die jeweiligen Geschichten, die so unterschiedlich und reizvoll sind, dass sie in der Tat ihre Berechtigung in dieser Veröffentlichung finden. Die Kreativität der Studenten scheint grenzenlos – hier zwei Textausschnitte:

„Im Haus neben der Schnellstraße trugen sich außergewöhnliche Seltsamkeiten zu. Der Eunuch, wie ihn die Schnellstraßenbewohner nannten, ging der Tätigkeit des Bücherlesens gerne nach und so entschied er sich in das verbotene Haus zu gehen, um an das dort versteckte Buch der Bücher zu gelangen. Problematisch an diesem Unterfangen war sein Einhorn, welches er auf dem Kopf trug...“ (aus „Ein leiser Hauch von Terror“ von Nadine Kuhn – Interpretation des Schnittes zum Gerichtsgebäude Sölvesborg)

oder

„MICK: "Hey Keith, alles klar bei Dir? Ich hatte heute Nacht einen total verrückten Traum. Es war so crazy, ich muss dir unbedingt die ganze Geschichte erzählen..." KEITH: "Yo, bei mir ist alles klar, dann leg mal los." MICK: "Es war wieder wie damals, die Party war genial. Das 54 hatte wieder auf. Allerdings war es in so einem älteren, eher turmartigen Gebäude. Was noch verdrehter war, dass es mitten in der Altstadt von München stand..." (aus TOWER 54 von Christine Hans – Interpretation des Schnittes zum Kaufhaus Stockholm)

Und so wird unterlegt, was zu Beginn als These dasteht: „Erst mit dem Schnitt wird der oftmals als Partitur der Architektur bezeichnete Grundriss wirklich zur Handlungsanweisung für das Erschaffen von Raum“ – und weiter: „Gleichzeitig aber offenbart sich hier (...) eine ganze Fülle an räumlichen Interpretationen“.

Diese Interpretationen sind nicht nur für Architekten absolut lesenswert, denn sie erheitern und regen zugleich zum (Über-) Denken architektonischer Raumauffassungen an. Erst erschreckend, dann ansteckend!

Und so geht es weiter...


„SZENEN DREIER HÄUSER [von Gunnar Asplund]“
Florian Fischer und Sebastian Multerer (Hrsg.)
Technische Universität München
Fakultät für Architektur

2012, Broschur mit farbigem Umschlag, 88 Seiten,15x11 cm, 2-Farb-Druck, zahlreiche Abbildungen SW
ISBN 978-3-941370-19-7
7,00 Euro (zzgl. Versandkosten)